Die Jungen aus der Feldstrasse, Teil 33


Nicht einer von ihnen hätte vor zwei Tagen gedacht, dass sie sich durch Katakomben und Höhlen bis zu einem Brunnen vorkämpfen würden, um in ein Gebäude einzudringen, aus dem andere versuchten herauszukommen. Abgesehen von dem ganzen Weg hierher war allein der Gedanke, dass sie in ein Gefängnis einbrechen wollten, so absurd, dass der Grund beinahe keine Rolle mehr gespielt hätte. Nur dass sie versuchten, Kol Therond, den Botschafter der [Hügelstätte] und Spion eines Reiches, mit dem sich ihre Heimat nur ausnahmsweise nicht in einem offenen Krieg befand, zu befreien, konnte die Situation noch absurder machen.

Natürlich hätten schon früher die ersten unglücklichen Vorstellungen in den Köpfen der Feldstraßler entstehen können, dass sich die nächsten Tage ungewöhnlich gestalten würden. Spätestens asl sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Ornithopter bestiegen. Wahrscheinlich wären ihnen tatsächlich Bedenken gekommen, wenn ihnen nur aufgefallen wäre, dass das Fluggerät keine Bewaffnung besaß. Kombiniert mit dem Umstand, dass die Männer und Frauen in dem verfolgten Luftschiff über Waffen verfügten und das Ziel dieser Verfolgung darin bestand, sie zu stellen, konnte man dies bestenfalls als unglücklich bezeichnen.
Die vier waren jedoch die gesamte Zeit dermaßen darauf fixiert gewesen, das Luftschiff einzuholen, dass ihnen dieser Umstand erst bewusstgeworden war, als der Pilot mit seinem Angriff begonnen hatte. Allerdings war der Pilot zuvor einige gewagte Ausweichmanöver geflogen, so dass sie zu diesem Zeitpunkt noch damit beschäftigt gewesen waren, ihre Mageninhalte bei sich zu behalten.
Dann hatte er den Ornithopter nach oben gezogen. Mit einem waghalsigen Sturzflug war es ihm gelungen, eine der Kufen von oben in die Hülle des Luftschiffes zu stoßen und ein großes Loch hineinzureißen. Leider hatte er dabei eine Verstrebung berührt, war ins Trudeln geraten und noch vor dem gegnerischen Gefährt abgestürzt.

Im Gegensatz zu allen anderen an Bord hatte der Pilot den Aufschlag nicht überlebt. Ein großer Ast hatte die Frontscheibe durchbohrt und seinen Oberkörper mehr zerquetscht als durchbohrt. Von den anderen hatte es Tiscio am schlimmsten erwischt. Er litt unter Nackenschmerze und immer wiederkehrenden Schwindelanfällen. Es hatte eine Weile gedauert, bis die übrigen den toten Piloten oder irgendetwas anders bemerkt hatten, denn gleichgültig wie gut sie den Absturz überstanden haben mochten, benommen waren sie alle gewesen.
Schließlich hatten sie sich trotzdem, einer nach dem anderen, aufgerappelt, um wenig später die Entscheidung zu fällen, dass sie sich aufteilen sollten. Während sich Kol Therond und sein Buttler auf die Suche nach einer Stadt und dem Luftschiff gemacht hatten, war die Beerdigung des Piloten, die Versorgung und die Reparatur des Ornithopters an die Zurückgebliebenen gefallen. Malandro und der Wachtmeister hatten sich beim Ausheben des Grabes die Hände wundgeschaufelt, während Tis die meiste Zeit damit verbracht hatte, an einen Baum gelehnt von einem kurzen Schlaf in den nächsten zu nicken. Gunnar und der Mechaniker, der sich schließlich als Milik vorgestellt hatte, waren zuerst Wasser holen gegangen, um anschließend den Schaden am Fluggerät zu begutachten und eine Liste der benötigten Materialien aufzustellen. Gunnar war dabei bewusstgeworden, was für ein großartiger Pilot der Tote gewesen war, denn es war ihmn gelungen die Flügel rechtzeitig einzuziehen, sodass sie weitgehend unbeschadet geblieben waren, ohne dabei einfach zu Boden zu plumpsen.
Während dieser Überlegungen hatte Gunnar vermutlich für geraume Zeit ein letztes Mal ein Gefühl von Sicherheit empfunden, welches aber schnell wieder verflog. Zum Teil lag dies sicherlich daran lag, dass sie, wie der hügelstättische Spion vor seiner Abreise bemerkt hatte, während ihrer Verfolgungsjagd schnell aus dem Königreich Xpoch heraus, über die [Hügelstätte] hinaus in ein Reich namens Klifsen geraten waren. Gunnar kannte den Namen, wusste jedoch so gut wie nichts über das Land. Was der Mechaniker wenig später vor sich hingegrummelt hatte, hatte nicht zu seiner Beruhigung beigetragen. Die Angst vor wilden Tieren und den Monstern, die es außerhalb seiner Heimat noch geben sollte, wurde von dem Gedanken an fremdenfeindliche, rückständige Jäger, nicht gemindert.
Ihre Bemühungen, den Ornithopter zu reparieren, wurden schließlich am nächsten Tag unterbrochen, als der Buttler zurückkehrte. Als die fünf ihn zwischen den Bäumen entdeckten, dachten sie sich anfänglich nichts dabei, bis sie erkannten, dass sein Begleiter nicht in jenem engen Rock steckte, den Hals gestreckt von einem steifen Kragen, sondern ein fremder, bärtiger Kerl in altertümlichen Kleidung war, wie sie nicht einmal mehr die Ärmsten im Ingen trugen. Die Anwesenheit des Buttlers sorgte dafür, dass sie nicht zu ihren Waffen griffen. Trotzdem steigerte sich ihre Unruhe mit jedem Schritt, den der Fremde näherkam.
Er hieß Uriar Phinebrik, behauptete ein Kollege des Botschafters zu sein (in welchem seiner Arbeitsfelder ließ er dabei offen) und hatte dem Buttler seine Hilfe angeboten, nachdem die örtliche Gesetzgebung Kol Therond gefangengesetzt hatte. Wie sie erfahren mussten, hatte sich das politische Klima in Klifsen zu Ungunsten der [Hügelstätte] verändert, nachdem die neue Führung (irgendein Senat oder ähnliches) eine Allianz mit ihrer eigenen Heimat anstrebte. Es war daher nur allzu verständlich, dass man einem unregistrierten, vornehmen [Hügelstätter] mit einer gewissen Feindseligkeit entgegentrat. Und dabei hatten sie nicht einmal wissen können, wie wahr der Spionagevorwurf tatsächlich war.
So saß der Botschafter nun in der nächsten Stadt in einem burgartigen Gefängnis und wartete auf seine Verlegung in die Hauptstadt, wo man ihm vermutlich einen wenig langen, um nicht zu sagen: kurzen, Prozess zu machen.
Bevor die Jungen aus der Feldstraße jedoch diese Informationen richtig verdaut hatten, um sich anschließend über das Verhängnis aufregen zu können, das diese Entwicklung über ihre Heimat bringen mochte, bot Uriar auch ihnen seine Hilfe an.
"Ich kann euch ins Gefängnis bringen, ihr müsst ihn jedoch herausholen."
"Wie soll'n wir das denn machen?" hatte Mal gefragt und damit noch die rationalste Reaktion gezeigt, die den Feldstraßlern in diesem Moment zu Gebote gestanden hatte.
"Niemand erwartet, dass man in ein Gefängnis einbricht. Ihr müsst einfach nur sehr vorsichtig sein, um zu unserem Freund vorzudringen. Für alles Weitere gebe ich euch die nötige Ausrüstung mit."
Natürlich hatte es noch ein paar Diskussionen gegeben. Sobald ihnen der Fremde jedoch versprochen hatte, Informationen über die Oravahler einzuholen, damit sie ihren eigentlichen Auftrag weiter ausführen konnten, ließen sie sich schließlich auf das Abenteuer ein. Keinem von ihnen war dabei aufgefallen, wie sehr der Fremde selbst an ihrem Erfolg interessiert zu sein schien.

Man konnte behaupten, dass es im klassischen Sinn ein Abenteuer geworden war. Nicht nur, dass Uriar sie mit altertümlichen Waffen und sogar primitiven Rüstungen ausgestattet hatte, er hatte ihnen auch den Weg in eine alte Mine und die dahinterliegenden Katakomben gewiesen.
Sie waren selbst erstaunt von der Wirkung gewesen, die die alten Waffen auf die Untoten gehabt hatten, welche aus einigen Gräbern hervorgekrochen waren. Sogar gegen die Riesenspinnen hatten den Waffen kaum etwas entgegenzusetzen gehabt. Zu ihnen waren sie gelangt, als sie durch ein Loch in einer Katakombenwand in die Kavernen dahinter vorgedrungen waren. Jeder rationale Mensch wäre spätestens bei diesen Monstren in Panik geraten, aber die Jungs waren in Xpoch aufgewachsen, wo man täglich einem Dämon auf der Straße begegnen konnte, der mindestens genauso viele Beine besaß, wie jene Arachniden von ungewöhnlichem Format. Es war erschreckend gewesen, aber nicht in dem Maße, dass es sie von aufgehalten oder von ihrem Weg abgebracht hätte.

Und so waren sie schließlich zu jenem Brunnen gelangt, der über dem unterirdischen Fluss gebaut worden war, aus dem die Festung ihr Trinkwasser bezog, und waren ihn hinaufgeklettert.

Die Jungen aus der Feldstrasse